Digitoxin

Der Rote Fingerhut

Autor: MONIKA LENZER

Digitoxin, ein Wirkstoff aus dem Roten Fingerhut, ist ein altes Mittel, um Menschen mit einer Herzschwäche zu behandeln – doch die therapeutische Breite ist sehr eng und Vergiftungen können vorkommen.

Der Rote Fingerhut ist als Zierpflanze in vielen Gärten anzutreffen. Ein prachtvolles Erscheinungsbild sind vor allem die rot-violetten, glockenartigen Blüten, die traubenförmig an der Spitze des aufrechten Stängels angeordnet sind. Weiter unten sitzen die weichen, eilanzettlichen Blätter, die auf der Unterseite filzig behaart sind. In der freien Natur ist das Braunwurzgewächs (Scrophulariaceae) in kalkfreien Bergwäldern in West- und Mitteleuropa anzutreffen.

Verschiedene Fingerhüte

Im Fingerhut sind vor allem herzwirksame Glykoside aus der Gruppe der Cardenolide (0,5–1,5 %) enthalten. Der Wollige Fingerhut (Digitalis lanata) weist ein breites Spektrum von bis zu 80 verschiedenen Glykosiden auf, wovon insbesondere das Digoxin zu nennen ist.

Im Roten Fingerhut (Digitalis purpurea) wiederum stecken etwa 30 unterschiedliche Glykoside, wozu auch das Digitoxin gehört. Rund sechs Gramm Digitoxin können aus zehn Kilogramm Blättern des roten Fingerhuts isoliert werden. Heutzutage kann die Substanz auch chemisch produziert werden, doch eine Vollsynthese ist viel zu aufwendig.

Herzstarker Mechanismus

In den Herzmuskelzellen blockiert Digitoxin die Natrium-Kalium-ATPase, was den aktiven Transport von Natrium- und Kalium-Ionen beeinflusst. Durch die veränderte Ionenverteilung an der Membran strömen mehr Calcium-Ionen hinein – es stehen dann mehr Calcium-Ionen bei der elektromechanischen Aktivierung bereit. Digitoxin hat also einen positiv inotropen Effekt, das heisst, der Herzmuskel kann sich kraftvoller zusammenziehen.

Gleichzeitig aktiviert Digitoxin den Parasympathikus, wodurch die Erregungsleitung im Herz verlangsamt wird – eine negativ dromotrope Wirkung liegt vor.

Toxischer Verlauf

Schon zwei bis drei getrocknete Blätter vom roten Fingerhut gelten als tödlich. Nach einer bis drei Stunden sind Übelkeit und Erbrechen die ersten Anzeichen. Bei einer stärkeren Vergiftung treten Herzrhythmusstörungen sowie Sehstörungen und Halluzinationen auf. Da die Natrium-Kalium-ATPase gehemmt wird, korreliert die Höhe des Serumkaliumspiegels mit der Mortalität – insbesondere ein Serumkaliumspiegel über 5 mmol/l ist kritisch.

Um den Giftstoff aus dem Körper zu eliminieren, gibt es verschiedene Massnahmen. Insbesondere die Gabe von Colestyramin kann den enterohepatischen Kreislauf unterbrechen. In den USA ist zudem ein spezielles Antidot namens DigiFab zugelassen. Es enthält spezifische Fab-Fragmente von Antikörpern, die Digoxin und andere Digitalis-Glykoside binden und neutralisieren können.

Historischer Rückblick

Schon im 5. Jahrhundert wurde der Rote Fingerhut arzneilich genutzt. Vor allem auf den britischen Inseln war seine Anwendung verbreitet, wie das Arzneibuch Meddygon Myddfai aus dem 13. Jahrhundert belegt. Später förderte der britische Arzt William Withering die Anwendung als Herzmedikament, indem er eine Publikation im Jahr 1785 veröffentlichte. Angeblich beruhen seine Studien auf den Kenntnissen der Heilkundigen «Mother Hutton», die einen Tee aus Rotem Fingerhut bei Wassersucht einsetzte.

Arzneiliches Digitoxin

Bereits in den 1960er-Jahren wurde Digitoxin bei Herzinsuffizienz verschrieben. Aufgrund von Nebenwirkungen wurde dann aber häufiger Digoxin verordnet. Digoxin hat eine Hydroxygruppe mehr, wodurch es polarer ist. Dies hat den Vorteil, dass es eine viel kürzere Halbwertszeit hat. Da es vor allem über die Niere ausgeschieden wird, kann es sich allerdings bei niereninsuffizienten Patienten im Körper anreichern. Dahingegen kann Digitoxin auch über die Leber und den Darm eliminiert werden, weshalb es für Nierenkranke verträglicher ist.

Zwischenzeitlich gibt es in der Schweiz kein zugelassenes Arzneimittel mehr mit Digitoxin oder Digoxin. Trotz der Erfolgsgeschichte werden für herzinsuffiziente Patienten heute andere Therapieoptionen bevorzugt.

Newsletter

Jetzt anmelden!