Mut zur Veränderung

Gehirn, Gewohnheit und das Neue

Autor: JÜRG LENDENMANN

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, denn er liebt es bequem. Altes aufzubrechen ist anstrengend, aber wichtig, wenn wir die Zukunft mitgestalten wollen.

«Unser Gehirn ist ein Energie-Vampir: Es verbraucht einen Viertel unseres gesamten Energieverbrauchs – und das im Ruhezustand», sagt Prof. Dr. Lutz Jäncke. «Denn es berechnet ständig ein Modell der Welt aus dem, was gespeichert ist, und dem, was reinkommt – sei es von aussen oder aus unserem Körper. Das ist die Grundlage für alle Denkprozesse und Urteile, die wir obendrauf setzen.»

Das unbewusste Langzeitgedächtnis

Der Mensch verfügt über drei Gedächtnisarten: das Ultrakurzzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis wiederum wird in ein bewusstes (deklaratives) und ein unbewusstes (prozedurales) Gedächtnis unterteilt. Jäncke: «Unser unbewusstes Gedächtnis wird nebenbei gefüttert. Das prozedurale Lernen dauert extrem lange; es braucht viele Wiederholungen und auch gute Vorbilder.»

Es sei ein atavistisches, uraltes Lernsystem. Der Abruf des Gespeicherten geschehe schnell und mühelos. «Wenn wir unser unbewusstes Gedächtnis nutzen, sind wir mit unseren Gewohnheiten in 80 Prozent der Fälle immer erfolgreich – in der Kultur, in der wir leben. Das Gehirn will eine stabile Welt interpretieren, in der wir uns sicher fühlen.»

Es sei biologisch sinnvoll, Gewohnheiten zu entwickeln, um in einer Kultur zu überleben. Stabilität sei daher der Grund, warum wir so fest in unserer Kultur verankert seien.

Gewohnheiten, Fakten und Meinungen

«Unsere Meinungen basieren auf Gewohnheiten, wie wir die Welt sehen und interpretieren. Werden wir mit Fakten konfrontiert, die davon abweichen, entsteht eine kognitive Dissonanz: Wir haben ein Problem. Wir könnten unsere Meinungen und Handlungen korrigieren: Aber das kostet Kraft. Deshalb rechtfertigen wir uns meistens und verteidigen unsere Meinung, ohne in die Fakten einzutauchen.

Um uns anzupassen, müssten wir den Frontalkortex nutzen und uns mit den anderen Meinungen auseinandersetzen. Das tun wir hingegen nicht. Warum nicht? Gewohnheit ist leicht; Auseinandersetzung ist mühsam.»

Neues bringe auch Ängste mit sich, die in Stress münden könnten. Bei Stress werde Cortisol in grossen Mengen ausgeschüttet. Dies könne zu Gedächtnisproblemen, Erschöpfung oder einem Burn-out führen.

«Die reinste Form des Wahnsinns
ist es, alles beim Alten zu lassen
und gleichzeitig zu hoffen, dass sich
etwas ändert.»
Albert Einstein

Umgang mit Veränderungen

Die psychologischen und physiologischen Reaktionen auf Angst auslösende Reize sind biologisch vorgeprägt. «Wir müssen lernen, mit Stress umzugehen – lernen, wie er entsteht. Und wir müssen Gegenmassnahmen treffen: systematisch an die unangenehmen Reize herangehen (Desensibilisierung).»

Wichtig sei auch, den Verstärkungsmechanismus –Belohnung – zu nutzen, um alternative Verhaltensweisen aufzubauen. «Sie müssen sich mit den Fakten und Meinungen auseinandersetzen, die nicht zu Ihnen passen, um Gewohnheiten aufzubrechen. Das ist kontinuierliches Lernen. Aber ebenfalls etwas, das anstrengend ist. Um Altes aufzubrechen, brauchen wir eine Kraft: Motivation.»

Motivation

Es gebe zwei Typen von Menschen, die unterschiedlich mit herausfordernden Situationen umgehen: Misserfolgs-Meider und Erfolgssucher.

«Misserfolgs-Meider setzen sich weniger Leistungssituationen aus und nutzen sehr hohe oder sehr niedrige Anspruchsniveaus. Erfolgssucher hingegen sind Menschen, die etwas lernen wollen und mittelschwere Anspruchsniveaus nutzen. In 50 Prozent der Fälle sind sie nicht erfolgreich. Das bedeutet: Sie müssen lernen, auch mit unangenehmen Situationen umzugehen.

Wenn die Erfolgssucher ein mittelschweres Ziel erreichen, das sie sich selbst gesetzt haben, sind sie stolz. Stolz, nicht Freude oder Glück, ist die schönste Emotion, die sich ein Mensch schenken kann.» Denn dann würden im Belohnungszentrum Bäche von Dopamin ausgeschüttet.

Unseres Glückes Schmied sind wir

«Wir sind selbst für unser Glück verantwortlich und müssen uns selbst um Veränderungen kümmern – Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen und Gewohnheiten abbauen. Das Problem ist, dass sich viele Menschen nicht entscheiden können.» Sie bleiben in einer Gewohnheitsschleife, weil es ihnen einfacher erscheint.

Neuanfänge sind Herausforderungen

Gewohnheiten sind effizient und benötigen wenig Ressourcen. Sich mit Neuem auseinanderzusetzen, sei immer eine Herausforderung. «In unserem Langzeitgedächtnis sind mehr unbewusste als bewusste Informationen gespeichert: Wir können mehr, als wir wissen. Das Können-Gedächtnis ist das prozedurale Gedächtnis. Wir sind ‹Gewohnheitsmonster›, weil wir mit dem unbewussten Gedächtnis vollgepfropft sind. Deshalb fühlen wir uns sicher. Die Sicherheit ist sozusagen das Geschenk der Gewohnheit. Das führt zur Gewöhnung und auch zur Ausschüttung von Dopamin.» Deshalb wollen wir so gerne bei unseren Gewohnheiten bleiben.

«Die Angst vor der Zukunft ist in uns verwoben und darüber hinaus biologisch sinnvoll. Aber die Welt verändert sich.» Die Frage sei, wie wir damit umgehen. «Wir sollten uns nicht vom Neuen überrollen lassen, sondern uns damit auseinandersetzen und es uns zu eigen machen: Wir müssen das Neue gestalten!»

Jäncke plädiert dafür, über unsere individuellen Gewohnheiten nachzudenken: Wo sind wir in Gewohnheitskreisen gefangen, politisch, persönlich, beruflich? Wie sind unsere Meinungen entstanden? «Man muss sich in die Gedanken und Rollen der anderen hineinversetzen, um sie und ihre Kultur zu verstehen. Alle Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind überwiegend Gewohnheitsprobleme – individuell erlernte Probleme, die unbewusst in uns vorhanden sind. Wir müssen den bewussten Kontrollmechanismus nutzen, um die unbewussten Phänomene zu erkennen und aufzubrechen.»

«Der beste Weg, die
Zukunft vorauszusagen,
ist, sie zu gestalten.»
Willy Brand

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