Unerklärter sechster Sinn

Das rätselhafte Alarmsystem der Tiere

Autor: KLAUS DUFFNER

Unerklärter sechster Sinn Als vor Sumatra Ende 2004 ein gewaltiges Seebeben einen verheerenden Tsunami auslöste, hatten sich Elefanten und viele andere Tiere rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Ähnliche Beobachtungen wurden in der Vergangenheit auch in anderen Regionen der Welt gemacht. Noch immer ist dieses Phänomen für die Forschung nicht zu erklären.

Der Beruf von Kritseda Sahangam (20) ist Elefantenführer. Er schaukelt auf seinen Tieren Touristen durch den Regenwald von Khao Lak in Thailand. Es ist der 26. Dezember 2004, ein Sonntag, als seine Tiere gegen fünf Uhr morgens plötzlich beginnen unruhig zu werden und wild zu trompeten. Einige Tiere stellen sich auf ihre Hinterbeine und strecken ihre Rüssel nach oben. Sie seien völlig ausser sich gewesen und nicht mehr zu beruhigen, erzählt Sahangam später. Obwohl er schon eine ganze Weile als Elefantenführer arbeitet, hat er so ein Verhalten bis dahin noch nie beobachtet.

Elefanten nicht mehr zu halten

Gegen sechs Uhr dämmert es und die Elefanten beruhigen sich allmählich wieder. Um 7.58 Uhr (Ortszeit West-Indonesien und Thailand) schiebt sich die Indisch-Australische Platte mit einem gewaltigen Ruck unter die Eurasische Platte und löst vor der Nordwestküste Sumatras in sieben Kilometern Tiefe eines der bislang stärksten je aufgezeichneten Seebeben der Magnitude 9,1 aus. Und wieder ertönt ein ohrenbetäubendes Brüllen und Gestampfe der Elefanten, noch schlimmer als zwei Stunden zuvor. Die Tiere versuchen sich von ihren Ketten zu reissen, aber für Sahangam gibt es dafür keinen ersichtlichen Grund, das Meer ist ruhig. Eine halbe Stunde danach kehrt wieder Ruhe ein. Gegen zehn Uhr kommen die ersten Touristen. Sie werden auf dem Rücken der Elefanten auf einem Weg entlang des Strands geführt. Erneut sind die Dickhäuter unruhig und schwenken laut trompetend den Kopf. Plötzlich sind die Tiere nicht mehr zu halten und beginnen mitsamt ihren Passagieren loszurennen. Sie laufen brüllend mehrere Minuten einen steilen Berg hinauf. Oben angekommen, bleiben sie stehen. Weitere Touristen, die den Elefanten einfach gefolgt sind, kommen hinzu. Unten hat sich das Meer zurückgezogen, wenige Augenblicke später rast eine meterhohe Flutwelle durch das Dorf und bringt Tod und Zerstörung. Mit ihrer Flucht haben die Dickhäuter nicht nur sich selbst, sondern auch mehr als zwei Dutzend Menschen in Sicherheit gebracht.

Ratten verlassen ihre Bauten

In anderen Regionen rund um den indischen Ozean konnten ebenfalls ähnliche Verhaltensweisen beobachtet werden. So wird aus Sri Lanka berichtet, dass sich nicht nur Elefanten, Wasserbüffel, Affen und Hirsche landeinwärts verzogen hätten, sondern auch Vögel in Schwärmen zuvor davongeflogen seien. Obwohl der dortige Yala-Nationalpark viele dieser Tiere beherbergt und nach dem Tsunami die Leichen von mehreren hundert Menschen gefunden wurden, fehlten Tierkadaver. Offensichtlich hatten sich die Tiere rechtzeitig ins Landesinnere oder auf höher gelegene Stellen zurückgezogen.

Aus der Vergangenheit existieren genauso zahlreiche Berichte von solchen Migrationen. Die frühesten gehen auf den griechischen Historiker Thucydides zurück, der berichtet, dass im Jahr 373 v. Chr. in der griechischen Stadt Helice Tage vor einem zerstörerischen Erdbeben «Ratten, Wiesel, Schlangen und Tausendfüssler» ihre Bauten verlassen hätten. Auch die Römer kannten «Unheil redende Tiere». Wenn Hunde, Pferde oder Gänse auffällig lärmten, verlegte der Senat aus Angst vor Erdbeben seine Sitzungen vorsichtshalber unter den freien Himmel.

In China rief die Regierung in den 1970er-Jahren zum «Volkskrieg gegen Erdbeben» auf und forderte die Bevölkerung auf, verdächtige Verhaltensweisen ihrer Haustiere oder anderer Tiere zu melden. «Amateurbeobachter» berichteten Anfang Februar 1975, dass zahlreiche Schlangen auf einmal aus ihren Höhlen gekrochen seien, obwohl sie zu dieser Jahreszeit üblicherweise Winterschlaf hielten. Daraufhin lösten die Behörden am 4. Februar 1975 um 10 Uhr Katastrophenalarm aus, um 19.30 Uhr ereignete sich dann ein Erdbeben der Stärke 7,3. Durch diese Warnung konnten viele tausend Menschen gerettet werden. Solche Meldungen aus der Bevölkerung wurden im Juli des darauffolgenden Jahres nicht beachtet. Das anschliessende Erdbeben am 27. Juli 1976 mit einer Stärke von 8,2 forderte in der Millionenstadt Tangshan rund 600 000 Opfer.

Mehr Bewegung bei Ziegen vor Erdbeben

Viele Augenzeugenberichte von aussergewöhnlichem Verhalten bei Tieren vor Erdbeben oder Vulkanausbrüchen sind Einzelbeobachtungen und oft anekdotisch. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür fehlt bislang. Ein Team unter der Leitung von Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz wollte das mit wissenschaftlichen Untersuchungen ändern.

Die Forscher statteten im Rahmen des «Icarus»-Projekts Kühe, Schafe und Hunde auf einem Bauernhof in einem norditalienischen Erdbebengebiet über Monate mit einem Halsband aus, in dem sich Beschleunigungssensoren befanden. In der Untersuchungszeit meldeten die Behörden neben unzähligen kleinen Beben darüber hinaus zwölf Erdbeben mit einer Stärke von vier oder mehr auf der Richterskala. Tatsächlich veränderten sich die Bewegungsprofile der Tiere bis zu 20 Stunden vor den Beben. Je näher die Haustiere dem Epizentrum eines bevorstehenden Bebens waren, desto früher verhielten sie sich auffällig.

Auch rund um den Ätna wurden Ziegen mit solchen Sendern ausgestattet. Am 4. Januar 2012 registrierten die Forscher an den Tieren eine aussergewöhnliche Aktivität. Sechs Stunden danach, um 22.20 Uhr, begann der Ätna grosse Mengen Lava und Asche in die Luft zu schleudern.

Elektrische Ströme und Drucksensoren

Die Versuche, diese Sinnesleistungen in irgendeiner Weise zu erklären, sind vielfältig. So sollen gemäss einer gängigen Theorie beim Verschieben der spannungsgeladenen Erdplatten elektrische Ströme freigesetzt werden, durch die elektrisch geladene Aerosole entstehen.

Die winzigen Schwebteilchen würden die Tiere über die Atemluft aufnehmen und ein Ausstoss von Serotonin im Gehirn verursachen. Dieser Botenstoff löst Angst und Panik aus, was letztendlich zum Fluchtverhalten führe, so die Theorie. Auch Infraschall, den einige Tiere wahrnehmen können, wird als Erklärungsmodell herangezogen. Jedoch ist durch die Luft transportierter Infraschall viel zu langsam, um einen Fluchtreflex schon Stunden vor dem Beben zu erklären.

Allerdings können Elefanten durch sehr feine Drucksensoren an den Fusssohlen oder vibrationsempfindliche Tiere wie Schlangen schon winzige Erschütterungen im Boden wahrnehmen. Dies könnte auch 2004 der Fall gewesen sein. Allerdings waren die Dickhäuter bereits zwei Stunden vor dem eigentlichen Seebeben aussergewöhnlich unruhig. Möglicherweise hatten sie schon leichte Vorbeben registriert, vielleicht die zunehmende Erdspannung. Letztlich ist bis heute dieser «sechste Sinn» der Tiere nicht zu erklären; trotzdem hat er Menschen vor dem Ertrinken gerettet.

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