Gesundheitsverständnis im Wandel

Besseres Altern

Interview: CHRISTINA BÖSIGER

Besseres Altern Die «Luzerner Initiative für Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Wohlbefinden (LIFE)» zielt darauf ab, Gesundheit und Wohlbefinden bei Krankheit, Verletzung und beim Altern zu verbessern. Was das konkret bedeutet, erklärt Professor Gerold Stucki im Interview.

Warum braucht es in der Gesellschaft ein neues Verständnis für Gesundheit?

Prof. Stucki: Weltweit stehen die Gesundheitssysteme vor enormen Herausforderungen. Um diese bewältigen zu können, ist es wichtig, sich grundsätzlich Gedanken zu den Rahmenbedingungen für das Gesundheitssystem der Zukunft zu machen. In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, wie unser Gesundheitssystem gestaltet werden könnte, um den Bedürfnissen einer alternden Bevölkerung und von Menschen mit chronischen Krankheiten bestmöglich gerecht zu werden.

Haben Sie konkrete Ideen?

Generell ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft selbstbestimmt und bei bestmöglicher Gesundheit leben können. Inwieweit eine Person am alltäglichen Leben teilnehmen kann, fähig ist, sich selbstständig fortzubewegen, sich zu ernähren, sich zu kleiden, zu arbeiten und an allen Lebensbereichen wie Arbeit, Familie sowie Sport teilzuhaben, hängt von ihrer Funktionsfähigkeit ab. Im Konzept der Funktionsfähigkeit, das von der WHO entwickelt wurde (siehe Kasten), werden diese und weitere Aspekte erfasst.

Bisher wurde die Gesundheit primär mittels Indikatoren der Morbidität (Häufigkeit der Erkrankungen in einer Gesellschaftsgruppe) sowie der Mortalität (Häufigkeit der Todesfälle in einer Gesellschaftsgruppe) berücksichtigt. Diese beiden Indikatoren müssen mit einem dritten Indikator ergänzt werden: der Funktionsfähigkeit. Die Funktionsfähigkeit umfasst einerseits die biologische Gesundheit und andererseits die gelebte Gesundheit. Die biologische Gesundheit umfasst alle Körperfunktionen. Die gelebte Gesundheit beschreibt, wie Menschen auf Grundlage ihrer biologischen Gesundheit in Interaktion mit ihrer physischen und sozialen Umwelt ihr Leben gestalten.

Das Konzept der Funktionsfähigkeit der WHO

Das Konzept der Funktionsfähigkeit wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO entwickelt – es umfasst sowohl die biologische Gesundheit der Menschen als auch ihre sogenannte gelebte Gesundheit. Diese bezieht sich auf alle Aktivitäten des Alltags wie Selfmanagement und Mobilität sowie die Teilnahme an allen Lebensbereichen – dazu gehören beispielsweise Familie, Arbeit, Freizeit und Sport. Diese gelebte Gesundheit steht in einer Wechselwirkung mit der biologischen Gesundheit sowie dem sozialen und physischen Umfeld, welche diese positiv oder negativ beeinflussen kann.

Können Sie das anhand eines Beispiels veranschaulichen?

Eine Person mit einer Mobilitätseinschränkung kann in einer nicht barrierefreien Umgebung nur eingeschränkt funktionieren. Ihre Funktionsfähigkeit kann jedoch durch Hilfsmittel oder Veränderungen in der baulichen Umgebung verbessert werden, sodass sie sich idealerweise ungehindert bewegen und am Leben teilnehmen kann. Weltweit erstmals wurde das WHO-Konzept der Funktionsfähigkeit als Grundlage für eine nationale Studie zur Erforschung, wie die Funktionsfähigkeit über den Lebensverlauf optimiert werden kann, in Kooperation mit Menschen mit einer Querschnittlähmung verwendet. Die durch die Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil koordinierte Studie wurde in Zusammenarbeit mit der WHO auf 36 Länder aus allen Weltregionen ausgeweitet. Die Studienresultate bilden die Grundlage für die kontinuierliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damit der Lebenssituation von Menschen mit einer Querschnittlähmung in der Schweiz und weltweit.

Findet demzufolge bereits ein Umdenken statt?

Das Konzept der Funktionsfähigkeit ist noch zu wenig bekannt – das möchten wir mit unserer LIFE-Initiative an der Universität Luzern ändern. Das Ziel von LIFE, der Lucerne Initiative for Functioning, Health and Well-being, ist es, von einem zwei- zu einem dreidimensionalen Gesundheitsinformationssystem zu gelangen und damit die Grundlage zur Reorientierung des Gesundheitssystems zu legen. Funktionsfähigkeit ist der rote Faden für eine patientenzentrierte Leistungserbringung im Kontinuum von der Akutversorgung bis in eine integrierte Grundversorgung.

Eine wichtige Grundlage zur Integration der Funktionsfähigkeit in das Gesundheitssystem wurde im Rahmen eines Projekts des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care» erarbeitet. Dank diesem Projekt können Funktionsfähigkeitsdaten aus der Klinik standardisiert und damit vergleichbar berichtet werden. Eine konkrete Anwendung ist das Feedbacksystem für Rehabilitationskliniken des nationalen Programms zur Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ).

Rund um das Thema haben wir im Februar 2024 an der Universität Luzern den ersten offiziellen Anlass, das LIFE-Forum Rehabilitation, durchgeführt, wo namhafte Forschende, Praktiker und politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zusammen die Resolution der WHO zur «Stärkung von Rehabilitation in Gesundheitssystemen» behandelten und darüber diskutierten, was dies für die Schweiz bedeutet. Auch ein Workshop in Kooperation mit der US-amerikanischen «National Academy of Medicine» zum Thema «Altern, Funktionsfähigkeit und Rehabilitation» fand im Februar 2024 an der Universität Luzern statt.

«Der Gesundheitszustand einer Person soll im Zusammenspiel mit der Umwelt so verbessert werden, dass eine möglichst gute gesellschaftliche Teilhabe erreicht werden kann.»

Was braucht es, damit das Konzept als wichtiges Gesundheitskriterium akzeptiert und eingeführt werden kann?

Damit Funktionsfähigkeit als dritter Indikator in die Gesundheitssysteme integriert werden kann, muss das Konzept in der breiten Öffentlichkeit, in der Wissenschaft sowie Politik und klinischen Praxis bekannt gemacht werden.

Gemeinsam mit unserem Forscherteam arbeiten wir daran, wissenschaftliche Daten bereitzustellen und diese mit erfolgreichen Fallbeispielen weiter zu untermauern. Zudem schlagen wir vor, ein neues Wissenschaftsgebiet – «Human Functioning Sciences» – also die Wissenschaft der menschlichen Funktionsfähigkeit zu schaffen. Im Beitrag «The human functioning revolution: implications for health systems and sciences» haben wir einen solchen Paradigmen-Wechsel hin zu einer ganzheitlicheren und multidisziplinären Beurteilung und Förderung von Gesundheit beschrieben.

Zur Person

Prof. Dr. med. Gerold Stucki ist Lehrstuhlinhaber für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik sowie Direktor der Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil. An der Universität Luzern leitet er zusammen mit Frau Asst.-Prof. Carla Sabariego das Center for Rehabilitation in Global Health Systems. Er ist Mitglied der National Academy of Medicine (NAM) in den USA sowie Präsident der europäischen Akademie für Rehabilitationsmedizin (EARM).

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