Bakteriophagen

Zur Bekämpfung von Krankheitserregern

Autor: Klaus Duffner

Die «Bakterienfresser» Unter dem Eindruck von zunehmenden Antibiotikaresistenzen könnten Bakteriophagen in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Solche bakterienabtötenden Viren werden in Osteuropa schon sehr lange eingesetzt. Auch in Genf wollte man einen Patienten mit Phagen retten.

Der querschnittsgelähmte Patient war schon länger wegen einer chronischen Lungeninfektion im Genfer Universitätsspital hospitalisiert. Alle bislang versuchten Antibiotikatherapien waren gescheitert, alle zur Verfügung stehenden Antibiotika ausgeschöpft. Im Jahr 2022 entschieden sich die Ärzte dann für eine sehr ungewöhnliche Therapie: Man wollte versuchen, die antibiotikaresistenten Keime der Art Pseudomonas aeruginosa mit sogenannten Bakteriophagen zu bekämpfen.

Ungeheure Mengen

Bakteriophagen oder kurz Phagen sind Viren, die ausschliesslich Bakterien infizieren, sich in diesen vermehren und sie dadurch häufig zerstören. Sie bestehen aus einem Kopf mit dem Erbgut (zumeist doppelsträngige DNA), einer Proteinhülle sowie einem Schwanzteil. Phagen sind praktisch überall zu finden, und zwar in unglaublichen Mengen. So können in einem Gramm Fleisch etwa 100 Millionen, in einem Gramm Erde bis zu einer Milliarde Phagen vorkommen.

Bakteriophagen besitzen keinen eigenen Stoffwechsel und sind immer auf Bakterien zur Vermehrung angewiesen. Haben sich die Phagen im Inneren des Wirtes vermehrt, platzt die Bakterienzelle und lässt die Phagen frei. Andere Phagen bringen ihren Wirt nicht um, sondern sie bauen ihr Erbgut in das der Bakterienzelle. Nach einer Zellteilung des Bakteriums wird dann die Virus-DNA auf die Tochterzellen weitervererbt. Die Phagen-DNA «lebt» damit als sogenannte «Prophage» in den nachfolgenden Bakteriengenerationen weiter. Faszinierend ist, dass solche trojanischen Pferde bei verändernden Umweltbedingungen wieder als Phagen aktiv werden und dann die Bakterienzellen zerstören können. Und noch eine Besonderheit zeichnet diese «Bakterienfresser» aus: Sie sind extrem wirtsspezifisch. So greifen spezifische Phagen jeweils nur eine Bakterienart oder sogar nur bestimmte Bakterienstämme innerhalb einer Art an. Dies ist ein grosser Unterschied zu Antibiotika, die nur wenig spezifisch wirken.

Einsatz im Lebensmittelbereich und der Landwirtschaft

Für den Menschen sind die allermeisten Bakteriophagen ungefährlich. Trotzdem können virale Gene, eingeschleust in Bakterien, Unheil anrichten. So ist die Phagen-DNA dafür verantwortlich, dass die Erreger von Diphtherie, Botulismus und Scharlach für den Menschen gefährliche Giftstoffe bilden. Auf der anderen Seite sehen Wissenschaftler ein gewaltiges Potenzial für den Einsatz von Bakteriophagen in unterschiedlichen Bereichen. Neben der Verwendung als Bakterienbekämpfer in der Human- und Tiermedizin ist der Einsatz im Lebensmittelbereich, in der Landwirtschaft, zur Reinigung von Wasser oder zur Herstellung von Impfstoffen vorstellbar. Beispielsweise hoffen Wissenschaftler, bakterielle Pflanzenkrankheiten wie den Erreger des Feuerbrandes mit Phagen bekämpfen zu können und damit konventionellen Pflanzenschutzmittel oder gar Antibiotika (in der EU verboten, in den USA noch im Einsatz) zu reduzieren. Für das nach Europa eingeschleppte Bakterium Xylella fastidiosa, das eine ernsthafte Gefahr in Südeuropa für die Produktion von Zitrusfrüchten, Oliven, Mandeln und Pflaumen darstellt, wird gegenwärtig der Einsatz von Bakteriophagen getestet. Um zu vermeiden, dass die Phagen inaktiviert (UV-Licht), ausgetrocknet oder abgewaschen werden, versuchen die Wissenschaftler, sie vor dem Ausbringen in widerstandsfähigere andere Bakterien zu schleusen, die für die Pflanzen unschädlich sind.

Zunehmende Antibiotikaresistenzen

Die wichtigste Anwendung von Bakteriophagen liegt jedoch im medizinischen Bereich, beispielsweise bei bakteriellen Gelenks- oder Lungenentzündungen. Tatsächlich haben Antibiotika-Resistenzen in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zugenommen. So entwickeln die Mikroorganismen heute nicht nur Resistenzen gegen einzelne, sondern öfters gegen mehrere Antibiotikaklassen als sogenannte Multiresistenzen. Gemäss den Schätzungen der Eidgenössische Fachkommission für biologische Sicherheit (EFBS) sterben in der Schweiz jedes Jahr mehrere hundert Personen, weil keine wirksamen Medikamente gegen ihre multiresistenten Keime zur Verfügung stehen; für Europa wurden im Jahr 2020 rund 33 000 Todesopfer geschätzt. Während in Westeuropa die Forschungen zur Phagentherapie noch in den Kinderschuhen stecken, nutzen sie Ärzte in Osteuropa, insbesondere in der Sowjetunion, schon seit Jahrzehnten. So existiert in Georgien bereits seit 1933 ein Institut für Phagenforschung; im Jahr 2011 wurde – vor allem für ausländische Patienten – in Tiflis eine eigene Klinik gegründet. Allerdings gibt es bislang wenige hochwertige Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Phagen. Letztlich ist unklar, ob solche Viren tatsächlich im grossen Stil einsetzbar und wirksam sind oder nicht. Im Gegensatz zu Arzneimitteln existieren zudem keine Standards für entsprechende klinische Studien. Da die Phagen aus der Umwelt entnommen werden, in einem aufwendigen Prozess identifiziert werden müssen und dies wenig Profit verspricht, zeigt die pharmazeutische Industrie bislang wenig Interesse an Investitionen. Bis heute gibt es in der Schweiz und der EU noch kein als Medikament zugelassenes Phagenpräparat. Allerdings beschäftigen sich hierzulande verschiedene Forschungsgruppen mit den «Bakterienkillern», beispielsweise am Zentrum für Phagentechnologien der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dort versuchen Experten aus unterschiedlichsten Fachbereichen die Anwendung von Phagen im Pflanzenschutz, in Aquakulturen, im Veterinärwesen, in der Lebensmittelherstellung, der Pharmazie und der Medizin zu fördern. An der Universität Zürich und der ETH Zürich arbeiten Virenspezialisten derzeit daran, die Phagen gegen Blasenentzündungen einzusetzen.

Genfer Erfolg

Nachdem das Bakterium Pseudomonas aeruginosa als Erreger der Lungeninfektion beim Patienten im Genfer Universitätsspital identifiziert wurde, gingen die Wissenschaftler auf die Suche nach einem geeigneten Phagen. Fündig wurden sie an der Yale University in den USA, wie im renommierten Fachblatt «nature communications» berichtet wurde. Der Phage war zumindest im Labor in der Lage, das Bakterium abzutöten. Aber auch im Menschen zeigte er Wirkung: Nach einer fünftägigen Therapie mit den Phagen-Aerosolen und einer nachfolgenden Antibiotikakur besserte sich der Zustand des Patienten rapide. Er zeigte weniger Kurzatmigkeit, weniger Sputumproduktion und bessere Ergebnisse im CT. Die Antibiotika-Therapie konnte im August 2022 abgesetzt werden und der Mann seine berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen.

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