Rückenwind für natürliches Heilen

Nachfrage übersteigt ärztliche Abdeckung

Autor: FABRICE MÜLLER

Die Naturheilmedizin geniesst in der Schweiz ein hohes Ansehen. Längst hat sie sich als Folge davon zu einem nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor entwickelt.

Vor etwas mehr als hundert Jahren war Weleda eine Pionierin. Das hat sich mittlerweile geändert. Die Naturkosmetik und integrative Medizin haben viele Nachahmer gefunden und werden immer mehr zum Mainstream. «Ich erachte dies als ein gutes Zeichen gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen», sagte der frühere CFO Michael Brenner im Interview mit dem KMU-Magazin «Organisator» und stellte fest: «Als Marktführerin für zertifizierte Naturkosmetik und wichtigster Hersteller anthroposophischer Arzneimittel konnten wir uns gut behaupten. Die immer grössere Anzahl von Mitbewerbern spornt uns an, weiterhin in neue Ideen zu investieren, den Vorsprung zu behalten und im Idealfall auszubauen.» Weleda fokussiert sich bewusst auf anthroposophische Werte wie zum Beispiel Nachhaltigkeit.

Profit ist nicht das Ziel

Welche Rolle spielen dabei marktwirtschaftliche Überlegungen? «Natürlich spüren wir als Wirtschaftsunternehmen den harten Wind eines umkämpften Markts und das treibt unsere Entwicklung auch an. Trotzdem prägen zwei Besonderheiten unser unternehmerisches Denken und Handeln: Der Profit ist nicht unser Ziel, sondern einfach eine Voraussetzung. Ansonsten wären wir nicht in der Lage, eine langfristige, verantwortungsvolle Unternehmenspolitik mit anthroposophischem Hintergrund zu betreiben», erklärte Michael Brenner. An zweiter Stelle stünden für Weleda die Erfahrung und Erkenntnis, dass der nachweisliche wirtschaftliche Erfolg eng mit dem verantwortungsvollen Handeln zusammenhänge. «Wir arbeiten Hand in Hand mit der Natur und den Menschen. Das wollen schlussendlich auch unsere Kunden und Kundinnen. Das ist für uns ein langfristiges Geschäftsmodell.»

Starker Aufschwung erlebt

Gesundheit ist ein vielschichtiges Thema. Gesundheit wird durch das individuelle Erleben und Verhalten bestimmt, aber ebenso von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Als Folge davon hat sich die Gesundheit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Als Teil dieser Branche durfte in den letzten 30 Jahren die Naturheilbewegung einen starken Aufschwung erleben. Die erfolgreiche Volksabstimmung «Ja zur Komplementärmedizin» 2009 hat in der Schweiz für zusätzlichen Auftrieb gesorgt. Die Menschen scheinen sich bewusst zu sein, dass sie nicht nur aus einem Körper und Molekülen bestehen. Heute ist die Bevölkerung der Schweiz der Komplementär- und Alternativmedizin sehr zugewandt und nutzt sie intensiv. Sogar Personen, die keine Zusatzversicherung haben, lassen sich naturheilkundlich behandeln. Dies hat eine Umfrage des Erfahrungsmedizinischen Registers EMR ergeben.

Gut zwei Drittel der Bevölkerung

Das EMR beauftragte die beiden Firmen Polyquest und Büro Vatter mit einer Umfrage zur Akzeptanz von Komplementärtherapie und Alternativmedizin; 6375 Personen wurden befragt. Mit dieser hohen Anzahl Teilnehmenden ist die Umfrage repräsentativ. Nahezu alle Befragten finden, dass Komplementär- und Alternativmedizin sinnvoll sei, sei es als Ergänzung zur Schulmedizin (63 Prozent) oder als Ersatz für die Schulmedizin (25 Prozent). Gut zwei Drittel der Bevölkerung hat Komplementär- und Alternativmedizin bereits genutzt: 65 Prozent der Befragten nahmen sie bereits einmal in ihrem Leben in Anspruch; 47 Prozent wählten sie innerhalb der letzten drei Jahre mindestens einmal. 19 Prozent nutzten sie innerhalb der letzten drei Jahre mehrmals. Besonders erstaunlich ist folgendes Resultat: 16,5 Prozent der Befragten gaben an, die Naturheilkunde genutzt zu haben, obwohl sie über keine Zusatzversicherung verfügen. Beim Berner Gesundheitskonzern Galenica schätzt man laut einem Bericht der NZZ den Umsatz, der hierzulande mit Arzneimitteln der Komplementärmedizin pro Jahr zu Publikumspreisen erwirtschaftet wird, auf rund 350 Millionen Franken. In dieser Berechnung eingeschlossen sind die Phytoarzneimittel, deren Wirkstoffe ausschliesslich aus pflanzlichen Stoffen oder pflanzlichen Zubereitungen bestehen.

Lange Tradition im Appenzell

In der Schweiz stellt die Naturheilbewegung besonders im Appenzell seit jeher eine wirtschaftliche Kraft dar. «Die liberale Gesetzgebung und die grosszügig erteilten Praxisbewilligungen für Neuzuzüger begünstigten das Aufkommen einer alternativen Heilmittelindustrie», informiert Iris Blum, Autorin des Buchs «Monte Verità am Säntis» – Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950. Die zahlreichen Kurbäder und Sanatorien zogen viele Touristen aus anderen Kantonen und aus dem Ausland an.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist der im ehemaligen Molkenkurort Heiden beginnende, drei Kilometer lange Gesundheitsweg, wo man Wissenswertes über die Traditionen der freien Heiltätigkeit im Kanton und die Bedeutung der Kräuterheilkunde erfährt. Im Heilbad Unterrechstein kann man einen Heilkräuter-Schaugarten bewundern, ebenso am ehemaligen Wirkungsort des Naturarzts Alfred Vogel (1902–1996) in Teufen. Mehrere Reformhäuser und Hersteller von Kräuterarzneien entstanden im Appenzell wie auch in der Ostschweiz, zum Beispiel die Kräuter-Zentrale A. Vogel. Heute arbeiten viele Heilpraktikerinnen und -praktiker im Kanton AR – Tür an Tür mit Schulmedizinerinnen und -medizinern. «Dieses Neben- und Miteinander von Natur- und Schulmedizin geniesst bei uns eine hohe Akzeptanz und ist Teil der Gesundheitskultur», sagt Caroline Büchel, Co-Präsidentin der Naturärzte Vereinigung der Schweiz (NVS) mit Sitz in Herisau AR, und spricht von einer «gelebten integrativen Medizin».

Integrative Angebote in Kliniken

Wie die Schweizerische Ärztezeitung in ihrem Beitrag über die integrative Medizin im Juni 2023 berichtete, praktizieren in der Schweiz immer mehr Ärztinnen und Ärzte mittlerweile selbstverständlich zu ihrer Facharztausbildung Komplementärmedizin. Im stationären Bereich gebe es zunehmend Abteilungen und Zentren für integrative Medizin. Der Verband «integrative-kliniken.ch» hat acht Mitglieder. Es gibt durchgehende stationäre integrative Angebote in den Spitälern Klinik Arlesheim, Gesundheitszentrum Fricktal, Klinik Schützen in Rheinfelden, clinica curative in Scuol und im Kantonsspital Fribourg. Ambulante und stationär tätige Zentren gibt es im Kantonsspital St. Gallen, im Spital Bethanien in Zürich und im Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV).

Trotz der insgesamt steigenden Anzahl von Angeboten übersteigt die zunehmende Nachfrage der Bevölkerung nach komplementärmedizinischen Behandlungen die ärztliche Abdeckung um ein Vielfaches. Als Folge davon erhöht sich der Bedarf an Therapeutinnen und Therapeuten zusätzlich. Diese Berufe der Komplementär- und Alternativmedizin mit eidgenössischem Diplom bilden angesichts der hohen Nachfrage eine attraktive berufliche Perspektive.

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