Ötzi hatte eine Glatze
Die weltweit bestuntersuchte Leiche
Autor: KLAUS DUFFNER
Neue genetische Analysen legen den Schluss nahe, dass der in den Ötztaler Alpen gefundene Gletschermann seine Wurzeln im heutigen Anatolien besass und relativ wenig Kontakt zur ursprünglichen Bevölkerung hatte. Zudem waren seine Haut dunkler und seine Haare deutlich spärlicher als bisher angenommen.
Wer das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen besucht, um die Gletschermumie vom Tisenjoch in ihrer Kühlzelle zu bestaunen, der wird an einer eindrücklichen Rekonstruktion vorbeikommen: Ein kleiner, zäher Mann mit vollem Haar und heller Haut. Gemäss neuer DNA-Analysen muss dieses Bild nun revidiert werden.
Dunklerer Teint
Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und dem Institut Eurac Research in Bozen haben mit modernen Sequenziertechnologien das Genom des Eismanns neu analysiert und damit die im Jahr 2012 durchgeführten Untersuchungen teilweise infrage gestellt. Denn wie sich jetzt herausstellte, waren die damaligen Erbgut-Proben mit moderner DNA kontaminiert. Die im Fachmagazin Cell Genomic veröffentlichten aktuellen Analysen wurden auf der Basis von sterilen Knochenproben des linken Hüftknochens durchgeführt. Überraschendes Ergebnis: Ötzi hatte eine wesentlich dunklere Haut als bisher angenommen.
Tatsächlich war die Mumie schon von Anfang an dunkler als heutige Mitteleuropäer, nur dachte man, dass dies eine «Nachdunklung» sei, die der Jahrtausende dauernden Konservierung im Eis geschuldet war. Die neuen DNA-Ergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass die Haut des Gletschermanns eher der von heutigen Menschen aus Nordafrika ähnelte. Wissenschaftler vermuten, dass die heute hellere Haut in Europa eine schrittweise Anpassung an die sonnenärmeren klimatischen Verhältnisse im Norden darstellen. Auch seine Haarpracht war deutlich schütterer. Die Nachbildungen zeigen einen 45-jährigen, leicht muskulösen, rund 1,60 Meter grossen Mann mit braunen Augen und schulterlangen, zotteligen, bräunlichen Haaren. Den Leipziger DNA-Analysen zufolge neigte Ötzi jedoch stark zu Haarausfall und trug bei seinem Tod eine Glatze oder zumindest eine Halbglatze. Dies wird durch die Beobachtung bestätigt, dass bei der Eismumie kaum Haare gefunden wurden.
Anatolische Vorfahren
Ötzi lebte in der Kupferzeit. Sein Alter zum Todeszeitpunkt wurde auf 3258 ±89 v. Chr. bestimmt. Die Isotopen-Analysen seiner Zähne und Knochen offenbarten, dass er an den südlichen Hängen der östlichen Alpen lebte. Seine frühe Kindheit verbrachte der Eismann wahrscheinlich in einem rund 60 Kilometer von der Fundstelle am Tiroler Tisenjoch entfernten Alpental. Während die vergleichenden (aber fehlerbehafteten) Analysen von 2012 auf eine nahe Verwandtschaft mit den heute in Sardinien lebenden Menschen hindeuten, kommen die aktuellen Forschungsergebnisse zu einem ganz anderen Schluss: Das Erbgut des Gletschermanns besteht aus einer Mischung zweier verschiedener Ahnengruppen, nämlich den ursprünglichen Jägern und Sammlern Westeuropas und den vor rund 8000 Jahren eingewanderten anatolischen Ackerbauern, welche die bis dahin unbekannte Landwirtschaft nach Europa brachten.
Die frühere Annahme, dass es sich bei den Vorfahren von Ötzi um aus der eurasischen Steppe migrierte Hirten handelte, wurde verworfen. Denn diese Gruppen wanderten erst um 3000 v. Chr. nach Europa ein, also rund 300 Jahre nach dem Tod des Eismanns. Zudem wurden in seinem neuerdings untersuchten Erbgut keine Hinweise auf die Steppenbewohner gefunden. Mit der modernen Sequenzierungsmethode (Illumina HiSeq platform) konnten sogar die Anteile seiner Herkunft quantifiziert werden: Rund 92 Prozent seines Genoms stammten von den anatolischen Bauern und nur 8 Prozent von den in Norditalien ursprünglich ansässigen Jägern und Sammlern ab.
So zeigt Ötzi unter allen bis heute untersuchten europäischen Menschen aus der Kupferzeit die meisten DNA-Anteile der südosteuropäischen Bauern. Dieses überraschende Ergebnis lässt den Schluss zu, dass die anatolischen Gruppen in ihrer neuen Heimat in den Alpen relativ isoliert lebten und um 3200 v. Chr. genetisch nur wenig Kontakt zur einheimischen Bevölkerung hatten. Da jedoch keine genetischen Anzeichen für Inzucht gefunden wurden, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass der Mann vom Tisenjoch in einem grösseren Verbund von Menschen lebte, die ebenfalls anatolische Vorfahren hatten.
Veranlagung für Diabetes
In den neuen Forschungsergebnissen fanden sich überdies Hinweise auf eine genetische Veranlagung zu Übergewicht und Diabetes Typ 2. Da man jedoch davon ausgeht, dass sich der Gletschermann gesund ernährte und viel in Bewegung war (immerhin war er zum Zeitpunkt seines Todes auf einem über 3000 Meter hohen Pass unterwegs), kam es wahrscheinlich nicht zum Ausbruch dieser genetischen Vorbelastungen. Der 5300 Jahre alte Mann aus dem Eis gilt heute als die bestuntersuchte Leiche der Welt. So wurden neue Erkenntnisse zu Aspekten wie Anatomie, körperlichen Besonderheiten, genetischer Anlage, Krankheiten, Ernährung, Herkunft, Bewaffnung, Lebensweise oder Umwelt gewonnen. Die immer feineren Untersuchungstechniken lassen hoffen, dass diesem aussergewöhnlichen Menschen aus der Kupferzeit auch in Zukunft noch viele Geheimnisse entlockt werden
Referenz
Wang K, Prüfer K, Krause-Kyora B, Childebayeva A, Schuenemann VJ, Coia V, Maixner F, Zink A, Schiffels S, Krause J. High-coverage genome of the Tyrolean Iceman reveals unusually high Anatolian farmer ancestry. Cell Genom. 2023; 3(9):100377.
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