Die Wurzeln der modernen Anatomie

«The Fabric of the Human Body»

Autor: CHRISTINE STRAUB

Als Andreas Vesalius vor über 500 Jahren geboren wurde, ahnte noch niemand, dass er die Medizin grundlegend verändern würde. Als junger Arzt vertraute er seinen eigenen Augen mehr als den antiken Beschreibungen des menschlichen Körpers.

Andreas Witinck wurde an Silvester 1514 in Brüssel als Sohn des Leibapothekers Kaiser Karl V. geboren. Sein späterer Name Vesalius (auch Vesal) erinnert an seine Abstammung aus einer alten Weseler Familie. Mit 15 Jahren nahm er das Studium der Sprachen und der Wissenschaften an der Universität von Leuven (heute Belgien) auf. Doch schnell wandte er sich der Medizin zu.

«Der Unterschied zwischen dem Mittelalter und der Renaissance kommt in den anatomischen Darstellungen auf den ersten Blick sehr deutlich zum Vorschein»

De humani corporis fabrica

Im Jahr 1537 zog es Vesalius an die Universität Padua in eines der bedeutenden geistigen Zentren der Renaissance. Hier vollendete er seine Doktorarbeit und wurde bereits am nächsten Tag zum Professor für Chirurgie und Anatomie berufen! Während seiner Zeit in Padua reiste er immer wieder nach Bologna, um dort öffentliche Sektionen vorzunehmen. Hierfür wurde extra ein anatomisches Theater eingerichtet. Die Sektionen von hingerichteten Straftätern standen unter dem Schutz der Kirche. Ohne dieses Protektorat wären Vesals Studien nicht möglich gewesen.

Als Unterrichtsmaterial für seine Studenten in Padua veröffentlichte Vesal bald sechs Tafeln mit anatomischen Zeichnungen des menschlichen Körpers. Der Maler und Grafiker Jan van Calcar fertigte die Holzschnitte unter Vesals Anleitung an. Calcar selbst war ein Schüler Tizians und hatte einen sehr grossen künstlerischen Einfluss auf Vesal. Gegen 1540 begann Vesal sein bahnbrechendes Anatomiebuch «De humani corporis fabrica», zu Deutsch «Die Beschaffenheit des menschlichen Körpers», zu schreiben, das drei Jahre später mit Holzschnitten von Calcar in Basel verlegt wurde.

Mittelalter versus Renaissance

Der griechische Arzt Galenus von Pergamon (Galen) wirkte im 2. Jahrhundert nach Christus und dessen anatomische Kenntnisse galten noch zur Zeit Vesals quasi als unanfechtbar. «Man muss wissen, dass die meisten Dozenten der damaligen Zeit Galen nicht kritisch gegenüberstanden», sagt Hubert Steinke, Professor für Medizingeschichte an der Universität Bern. «Sie versuchten daher auch nicht, ihr Wissen durch eigene Versuche und Beobachtungen zu erlangen.» Viele Professoren lasen lieber aus den alten Büchern vor und liessen ihre Gehilfen die Leichen parallel zu ihren verbalen Ausführungen sezieren. «Nicht so Vesal», betont Steinke: «Als geübter, praktisch arbeitender Anatom führte er die Sektionen selbst durch.»

Ein Augenzeuge berichtete, wie die alte und neue Weltanschauung in Bologna nach einer Anatomievorlesung von Matthaeus Curtius aufeinanderprallten. Vesalius bat Curtius, ihre unterschiedlichen Meinungen über die Anatomie an zwei sezierten Leichen auszuräumen. Vesal soll gesagt haben: «Jetzt wollen wir einen Moment hinschauen und wir sollten für diese Zeit Galen beiseitelassen …» Curtius soll lächelnd geantwortet haben: «Nein, mein Herr, wir dürfen Galen nicht beiseitelassen, denn er versteht alles immer sehr gut und daher folgen wir ihm auch. Könnt Ihr [die klassischen griechischen Gelehrten wie] Hippokrates besser interpretieren, als es Galen tat?» Hier trafen verschiedene Weltanschauungen unversöhnlich aufeinander. Curtius konnte getrost auf der althergebrachten, mittelalterlichen Sichtweise bestehen – aufhalten konnte er die neuen Kenntnisse, die auf Beobachtungen beruhten, aber nicht.

«Der Unterschied zwischen dem Mittelalter und der Renaissance kommt in den anatomischen Darstellungen auf den ersten Blick sehr deutlich zum Vorschein», erklärt Steinke. «Die althergebrachten Zeichnungen stellen Schemata dar, die keinen Anspruch auf anatomische Korrektheit hatten. Vesal hingegen war bestrebt, jedes anatomische Detail zu verstehen und in den Zeichnungen exakt darzustellen.» Dieses Bestreben führte ihn zwangsläufig zum Widerspruch zu Galen, da Galens Anatomie auf tierischem und nicht auf menschlichem Material beruhte.

In guter Gesellschaft

Vesalius war damals bei Weitem nicht der Einzige, der gegen eine dogmatische Weltanschauung ankämpfen musste. Als eines der bekanntesten Beispiele seien hier Nikolaus Kopernikus und später Galileo Galilei zu nennen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich ihr heliozentrisches Weltbild gegen das geozentrische durchsetzen konnte. Übrigens hat Vesal nicht als Erster detaillierte anatomische Zeichnungen, die auf Sektionen von menschlichen Körpern beruhten, angefertigt: Von Leonardo da Vinci sind hervorragende anatomische Studien überliefert. Leonardo da Vinci ist uns aber als Maler und Bildhauer und nicht als Anatom bekannt. Welche Faktoren haben dazu geführt, dass Vesals Arbeiten so beachtet wurden und werden?

Das Besondere an Vesals Arbeiten

Als Erstes seien sicherlich Vesals grosse praktischen Fähigkeiten und seine Beobachtungsgabe zu nennen. Sehr genau beschrieb er die Anatomie des Menschen in seinem Buch «Über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers». Seine Texte ergänzte er mit detailgetreuen anatomischen Zeichnungen.

Vesals wissenschaftliche und künstlerische Leistung allein erklärt jedoch noch nicht seine Bedeutung. «Vesal wählte ein sehr grosses Format für sein Buch. Das bedingte eine ausgereifte Drucktechnik und verursachte sehr hohe Druckkosten», sagt Steinke. «Erst hierdurch konnte die bis dahin unerreichte Qualität der Abbildungen realisiert werden und wir nehmen an, dass dieser ausserordentlich grosse Aufwand dem Buch zum Durchbruch verholfen hat.» Die hohe Kunstfertigkeit eines venezianischen Holzschnitzers und eines Basler Druckers ermöglichten es Vesalius, seine anatomischen Bilder in revolutionärer Qualität als Buch herauszugeben. Hiermit wurde die Lehre der Anatomie begründet.

Immer noch aktuell

Nach rund 500 Jahren wurde kürzlich Vesals grosses Werk didaktisch aufgearbeitet, ins Englische unter dem Titel «The Fabric of the Human Body» übersetzt und mit ausführlichen Kommentaren neu verlegt. Wo? Natürlich in Basel! Damit gibt «der Vesal», wie das Buch liebevoll genannt wird, weltweit wieder vielen modernen Anatomen die Gelegenheit, sich intensiv mit ihren eigenen Wurzeln zu beschäftigen. Denn nach wie vor orientiert sich der heutige Anatomieunterricht stark an den Grundlagen, die vor knapp fünf Jahrhunderten von Vesalius gelegt worden sind.

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