Wie Intuition unsere Entscheidungen leitet
Bauchgefühl statt Kopfentscheid
Autor: FABRICE MÜLLER
Intuition
In unserer von Zahlen und Verstand geprägten Gesellschaft hatte die Intuition bis vor Kurzem nur wenig Platz. Jetzt entdecken immer mehr Menschen ihr Bauchgefühl. Was steckt dahinter?
Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen und auf die innere Stimme zu hören, wird in unserer von Zahlen, Fakten und Logik getriebenen Gesellschaft gerne belächelt. Doch immer mehr Menschen vertrauen auf ihr Bauchgefühl und lassen sich bei wichtigen Entscheidungen intuitiv leiten.
Thomas Brandenberger, Psychologe, Managementcoach und zusammen mit Peter Müri Autor des Buches «In die Intuition eintauchen», glaubt, dass die Menschen inzwischen wieder offener sind für eine Auseinandersetzung mit ihrer Intuition. Jedoch: «Da unsere Gesellschaft Intuition als Entscheidungshilfe meist nur im Privatleben akzeptiert, erscheint sie nicht in einem Lehrplan der öffentlichen Schulen. Bildung, Beruf, Gesellschaft und vor allem einige Wissenschaften sorgen dafür, dass Intuitionsentscheidungen als suspekt abgewertet und vermieden werden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unsere Intuitionsbegabung heute in der Regel verkümmert ist.»
Dass die Intuition trotzdem Beachtung findet, wenn auch nicht offiziell, zeigt zum Beispiel die Befragung von Jadish Parikh, Experte und Buchautor zum Thema Selbstmanagement sowie Mitbegründer der World Business Academy (USA). In der Umfrage gaben 80 Prozent von 1312 führenden Managern aus neun Ländern an, dass sie ihre Intuition einsetzen und glauben, dies würde zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Über 70 Prozent zeigten sich zudem davon überzeugt, dass die Intuition für Forschungs- und Entwicklungsbemühungen wichtig sei. Die Arbeit mit der Intuition ist allerdings nicht neu: Im abendländischen Denken galt die Intuition einst als sicherste Form der Alltagserkenntnis.
Unbewusste Intelligenz
Doch was genau ist Intuition? Und wie funktioniert sie? Im Lateinischen wird die Intuition (intuitio, intuere) mit «genau hinsehen» umschrieben. Wesentliche Aspekte der Intuition sind zum einen die Begabung, auf Anhieb eine gute Entscheidung zu treffen, ohne die zugrunde liegenden Zusammenhänge explizit zu verstehen. Zum andern ist es die Fähigkeit, Eigenschaften und Emotionen eines Menschen in Sekundenbruchteilen komplex zu erfassen. Intuition gilt daher als Fähigkeit zur Informationsverarbeitung und zur angemessenen Reaktion bei grosser Komplexität der zu verarbeitenden Daten. «Pure Vernunft wird niemals siegen», sagt Gerald Traufetter in seinem Buch «Intuition, die Weisheit der Gefühle». Ein Grossteil des geistigen Lebens der Menschen spielt sich gemäss Traufetter im Unbewussten ab und beruht auf Prozessen, die nichts mit Logik zu tun haben.
Intuition wird gerne auch als unbewusste Intelligenz bezeichnet. Sie taucht rasch, teilweise schlagartig im Bewusstsein auf. Dabei sind uns die genauen und tieferen Gründe nicht ganz bewusst, wie Thomas Brandenberger erklärt. «Bauchgefühle basieren auf überraschend wenigen Informationen. Im Gegensatz dazu ist die Informationsbeschaffung für rationale Entscheide vielfach ein zeitintensiver Prozess.» Was unterscheidet Intuition von Religion, Moral und Gewissen? «Moral steht im Zusammenhang mit Regeln und erwarteten Handlungsmustern von Individuen aus verschiedenen Gruppen oder Kulturen. Ich kann mir vorstellen, dass aus Kulturen heraus über Generationen aus kollektivem Wissen und Urwissen eine Kraft wirken und so auch unsere Intuition beeinflussen kann», sagt Brandenberger. Gewissen hingegen sei wie die Moral an Normen gebunden.
«Es braucht neben der Intuition auch den Kopf und das Herz, um als Mensch weiterzukommen.»
Von der Wissenschaft einst belächelt
Für die Naturwissenschafter gehörte die Intuition lange Zeit in den Bereich der Esoterik. Mittlerweile jedoch nehmen sich vor allem Psychologen, Mediziner und Neurowissenschafter vermehrt dem Thema an. Dies kann Thorsten Pachur vom Max-Planck-in Berlin bestätigen: «Heute weiss man, dass die Menschen schon immer wichtige Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen haben. In der Psychologie versuchen wir herauszufinden, welche Mechanismen bei Bauchentscheidungen im Spiel sind.»
Dass sich die Wissenschaft plötzlich mehr für die einst belächelte Intuition interessiert, hat für Thorsten Pachur auch damit zu tun, weil die Intuition in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. «Wir müssen beziehungsweise dürfen heute in vielen Lebensbereichen deutlich mehr Entscheidungen treffen als noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Die Fülle an Informationen kann allein mit dem Intellekt gar nicht in nützlicher Frist verarbeiten könnten. Hier sind wir auf das Bauchgefühl angewiesen.»
Im Reich der Gefühle
Die Psychologie geht davon aus, dass die Intuition stark mit Emotionen gekoppelt ist. Über die genaue Rolle der Gefühle können Wissenschaftler wie Thorsten Pachur allerdings nur spekulieren. Für den britischen Autoren und Biologen Rupert Sheldrake gehört die Fähigkeit, Vorahnungen in sich wahrzunehmen, zum natürlichen Leben – ebenso die bisweilen als unerklärlich geltenden Fähigkeiten wie Telepathie oder Hellsehen. «Wissenschaftlich wurden diese wichtigen menschlichen Fähigkeiten lange Zeit tabuisiert und in die sogenannte Parapsychologie abgeschoben», berichtet der Psychotherapeut und Wissenschafter Theodor Itten aus St. Gallen. In der Psychotherapie arbeitet Itten bewusst mit der eigenen Intuition: «Während der Konsultation spüre ich zum Beispiel, wie eine spezifische Frage an die Patienten in mir aufsteigt. Viele Psychologinnen und Psychologen kennen diese Erfahrung, wie meine Umfrage im Kollegenkreis bestätigte», schildert Theodor Itten.
Neben der Psychologie hat sich auch die Neurowissenschaft der Intuition angenommen. Diese kann durch moderne, bildgebende Verfahren im Gehirn sichtbar gemacht werden. Die Forscher Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese von der Universität Parma entdeckten sogenannten «Spiegelneuronen». Diese Nervenzellen sollen, so die Annahme der Forscher, die Bewegung und seelische Berührung von Menschen spiegeln.
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