Phantomschmerzen
Wenn Spiegel helfen können
Autor: TANJA SCHÜLER
Phantomschmerzen seit dem 16. Jahrhundert bekannt sind, ist ihre genaue Ursache bis heute nicht eindeutig geklärt. Die derzeitigen Erkenntnisse sprechen für einen Reorganisationsprozess im zentralen Nervensystem mit einer möglichen Verstärkung im peripheren Nervensystem.
Phantomschmerzen wurden das erste Mal vom französischen Chirurgen Ambroise Paré im 16. Jahrhundert dokumentiert. Der Begriff wurde aber erst im amerikanischen Bürgerkrieg durch den Militärchirurgen Silas Weir Mitchell geprägt. Phantomschmerzen werden mit traumatischen Amputationen assoziiert, kommen aber auch bei anderen Amputationen wie bei einer Zahnextraktion oder einer Brustamputation vor, auch wenn sie da deutlich seltener auftreten.
Phantomschmerzen: Keine psychiatrische Erkrankung
Unter Phantomschmerzen versteht man Schmerzempfindungen an einer Extremität, einem Organ oder einem anderen Gewebe nach einer Amputation und/oder einer Nervenverletzung. Wurden anfänglich Phantomschmerzen als psychiatrische Erkrankung eingestuft, so weiss man heute, dass es nach einer Amputation zu Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem kommt. Aufgrund dessen zählen Phantomschmerzen zu den neuropathischen Schmerzen.
Schmerzen, die nach einer Amputation auftreten, werden dem Postamputationssyndrom zugeordnet, das Stumpfschmerzen, Phantomsensationen und Phantomschmerzen umfasst. Die Ursache postoperative Schmerzen muss eindeutig differenziert werden, da daraus die weitere Behandlung resultiert.
«Phantomschmerzen werden mit traumatischen Amputationen assoziiert, kommen aber auch bei anderen Amputationen wie bei einer Zahnextraktion oder einer Brustamputation vor.»
Veränderungen im Nervensystem
Bei der Ursache für Phantomschmerzen liegen laut den bekannten Theorien entweder Veränderungen im peripheren oder im zentralen Nervensystem zugrunde. Zu den Veränderungen im peripheren Nervensystem gehört die neuronale Hyperaktivität, bei der eine vermehrte Aktivität der Nervenzellen im Bereich des Stumpfes oder der Bildung von Neuromen vorliegt. Zu den Veränderungen im zentralen Nervensystem zählen die kortikale Neuzuordnung (Melzack’sche Neuromatrix), die Thalamus-Beteiligung, das propriozeptiven Gedächtnis oder die Empfindungsveränderung im Bereich des Rückenmarks. Bei der kortikalen Neuzuordnung kommt es zu einer Invasion benachbarter Bereiche in die frühere kortikale Region der amputierten Extremität.
Die Thalamus-Beteiligung beruht auf die Beobachtung, dass nach einer Amputation die korrespondierende Thalamus-Region der amputierten Extremität im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen vergrössert ist. Darüber hinaus kann die Stimulation dieser Bereiche im Thalamus Schmerzen und Empfindungen hervorrufen, die subjektiv mit den Empfindungen der Phantomschmerzen übereinstimmen. Bisher ist jedoch keine einzelne Theorie ausreichend, um Phantomschmerzen vollständig zu erklären.
«Es ist wahrscheinlich, dass eine Vielzahl von Veränderungen im ZNS und PNS Phantomschmerzen verursachen.»
Ursache Gliedmassen-Amputation
Phantomschmerzen treten nach Gliedmassen-Amputationen häufig auf, wobei die Beschreibung des Schmerzes stark variiert. Patienten beschreiben das Gefühl oft als brennend, schmerzend, stechend oder schneidend. Zwischen 60 und 85 Prozent aller Amputierten empfinden Phantomschmerzen innerhalb von Stunden bis wenige Wochen nach der Amputation. Bei etwa der Hälfte der Patienten nehmen die Schmerzen mit der Zeit ab, bei der anderen Hälfte bleiben die Schmerzen gleich oder nehmen sogar zu. Für Ärzte, die Patienten mit Amputationen begleiten, ist die Behandlung von Phantomschmerzen deshalb ein wichtiges Thema.
Von NSAR bis TENS
Die Behandlung orientiert sich dabei in erster Linie an der Stärke und Dauer der Schmerzen. Sie umfasst Medikamente, adjuvante Therapien und chirurgische Eingriffe. Im Vordergrund steht die medikamentöse Therapie mit einer Vielzahl von Medikamenten zur Auswahl, darunter nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), Opioide, trizyklische Antidepressiva oder antikonvulsive Therapeutika. Medikamentöse Therapien werden auch mit adjuvanten Therapien kombiniert. Zu den adjuvanten Therapien gehört u. a. physikalische Therapien wie Bäder, Massagen und Akupunktur, die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die Spiegeltherapie sowie Biofeedback.
Aufgrund der insgesamt mässigen Erfolge der Pharmakotherapie hat man in den letzten Jahren verstärkt nach Behandlungsansätze geforscht, die auf die amputationsbedingten Veränderungen im zentralen Nervensystem abzielen. Zu den Behandlungsansätzen, die auf das zentrale Nervensystem abzielen, gehört beispielsweise das somatosensorisches Diskriminationstraining oder die Spiegeltherapie, die zu einer Verbesserung der Phantomschmerzen führen können.
Wirksame Spiegeltherapie bei Phantomschmerzen
Die Bewegung von Extremitäten beruht auf dem Zusammenspiel des visuellen und propriozeptiven Systems. Nach der Amputation bleibt die Propriozeption der einst intakten Extremität erhalten. Eine mögliche Erklärung ist, dass die widersprüchlichen Signale beider Systeme im Gehirn zur Wahrnehmung einer Phantomextremität und von Phantomschmerzen führen. In einer Studie bewegten Freiwillige ihre oberen und unteren Extremitäten auf kongruente oder inkongruente Weise, während sie diese Bewegungen in einem Spiegel sahen oder ihre Sicht durch eine Tafel versperrt war. Die meisten der gemeldeten Symptome traten auf, wenn die Teilnehmer inkongruente Bewegungen ausführten, während sie die Spiegelung ihrer Gliedmassen betrachteten, was den grössten Konflikt zwischen motorischen und sensorischen Prozessen verursachte. Zu den berichteten Symptomen gehörten Taubheitsgefühle, Nadelstiche, Schmerzen und unangenehme Schmerzen (DOI: 10.1093/rheumatology/keh529).
Die Spiegeltherapie basiert auf dem visuellen Feedback bei der Modulation von Phantomschmerzen. Sie ist nicht invasiv und vielleicht eine der kostengünstigsten und wirksamsten Behandlungsmethoden für Phantomschmerzen. Brenda L. Chan und Kollegen führten 2007 die erste randomisierte, scheinkontrollierte Studie durch, die zeigte, dass die Spiegeltherapie bei 93 Prozent der Teilnehmer zu einer Verringerung der Phantomschmerzen führte (DOI: 10.1056/NEJMc071927). Der Einsatz fortschrittlicher Technologien zur Erstellung virtueller Bilder der fehlenden Gliedmassen von Amputierten hat ermutigende Ergebnisse zur Linderung der Phantomschmerzen gezeigt. In einer Studie in 2009 wurde von Catherine Mercier und Kollegen eine VR-Therapie angewandt, bei der acht Teilnehmer ein virtuelles Bild einer Gliedmasse betrachteten, verschiedene Bewegungen ausführten und diese mit Phantomgliedern nachahmten, was zu einer durchschnittlichen Abnahme der Phantomschmerzen um 38 Prozent führte (DOI: 10.1177/1545968308328717). Durch den Einsatz von optischen Täuschungen, visuellem Feedback und virtueller Realität hat sich die Spiegeltherapie als wirksame Behandlung von Phantomschmerzen erwiesen.
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